09.06.2010

Immer wieder ankommen: OTP!


Ich erinnere mich an den Tag vor meiner Ankunft in Thailand. Die Medien waren voll mit schrecklichen Bildern, Thais in gelben und roten T-Shirts bekämpften sich und Soldaten waren schwer bewaffnet. Regierungen rieten von der Einreise ab. Sollte ich wirklich in Melbourne ins Flugzeug steigen und in das Land reisen, das ich mir selbst als das Traumland meiner Missionserfahrung ausersehnt hatte?

Voller Gottvertrauen und gestärkt durch die Ermutigungen und Gebete der Mitbrüder, trat ich meine Reise an. Die Freude auf das Neue war da, würde ich doch wenige Stunden später zum ersten Mal in meinem Leben asiatischen Boden betreten. Gleichzeitig war auch ein ganz großes Stück Wehmut in meinem Herzen. Noch zwei Tage zuvor war ich im australischen Outback unterwegs. Es war Ostern, und wir sind 1.000 Kilometer über sandige Strassen gefahren, um die Osterbotschaft in zwei Aboriginal Communities zu bringen.



Als ich in Brisbane Englisch lernte, glaubte ich die Kultur Australiens verstanden zu haben. „Go bush” mit den Aboriginals und das Spielen mit ihren Kindern, die mich mit „kaka” zu sich riefen – was in ihrer Sprache „älterer Bruder” bedeutet - öffneten meine Augen für eine ganz andere australische Kultur. Nun saß ich in einem Flugzeug der THAI Air und dachte an Kangaroos und Kangarooschwänze, und wie die Letzteren mir einen Hauch von Unbehagen bereiteten, als ich sie zum ersten Mal in der Gefriertruhe des einzigen Shops in der Aboriginal Community Santa Teresa gesehen hatte. THAI Air bot seinen Gästen auf dem Flug nach Bangkok ein Reisgericht zum Frühstück und eines, das wohl alle Nichtasiaten bevorzugten. „Es ist vielleicht die letzte Gelegenheit”, dachte ich und nahm das nicht asiatische Frühstück.

Fünf Jahre zuvor hatte ich in der Missionschronik einen Artikel über das Engagement der Steyler Missionare in Thailand gelesen. Damals war ich Novize in Berlin, aber ich dachte: „Eines Tages werde ich vielleicht mal dort sein“. Hier bin ich jetzt!


Warum eigentlich Thailand?

Als Bruder fand ich interessant, dass unser missionarisches Engagement in Thailand im Jahr 1999 von Brüdern gestartet wurde. In 2007 kamen die ersten Steyler Priester an. Im Fokus unserer Mission stehen Menschen, die HIV positiv oder an AIDS erkrankt sind. Als Krankenpfleger und Dipl. Pflegepädagoge (FH) konnte ich mir vorstellen, genau da meinen Beitrag zu leisten. Wir Steyler Missionare bemühen uns um einen lebendigen Dialog mit unterschiedlichen Religionen. Nur 1% der Thais sind Christen, 0,5% Katholiken. Alle Weltreligionen sind hier vertreten. Ich war besonders an einem Dialog mit Buddhisten interessiert. Die Ausbeutung der Thais durch Sextouristen, oft Deutsche, war für mich eine weitere Motivation, als Christ bewusst mit einer ganz anderen Motivation den Menschen hier zu begegnen.

Bangkok, 15. April 2009. Ich erwartete Soldaten, die mich zur staatlichen Sicherheit mit Maschinengewehren begrüßen würden und ich befürchtete Straßenschlachten. Nichts davon bekam ich zu sehen, was ich auch nicht bereute. Als ich meine erste Runde durch Bangkok drehte, bot sich mir eine ganz andere Schlacht. Menschen bewarfen mich und sich gegenseitig mit Wasser. Sogar im Bus bekam ich eine Ladung ab und fragte mich: „Wo bin ich hier nur gelandet?” Das Bild der Wasserschlachten zeigt, wie ich mich fühlte: Ich stand da, wie ein begossener Pudel, der nicht wusste, was um ihn herum geschah. Ich kam zwar an, aber längst nicht an dem Punkt, wo ich wusste, was und warum was um mich herum passierte. Die Thais feierten in diesen Tagen das thailändische Neue Jahr, Songkraan. Da dies die heißeste Zeit des Jahres ist, tun sich die Menschen etwas Gutes, verschaffen sich gegenseitig eine Abkühlung und sprechen sich im Blick auf das Neue Jahr einander gute Wünsche zu. Erst ein Jahr später, als ich das Neue Jahr zum zweiten Mal in Thailand begrüßen konnte, konnte ich mit Freude dabei sein, freute mich über die Wasserspiele und die Neujahrswünsche.








Was aber war in diesem Jahr mit mir und um mich herum geschehen?

Die Präsenz der Steyler beschränkt sich in Thailand auf die Diözese Udon Thani. Alle Besuche hier bei den Mitbrüdern, in der Regel konnte ich alle drei Monate für einen Kurztrip von Bangkok nach Nong Bua Lamphu reisen, boten mir das Gefühl „daheim“ anzukommen. In Bangkok, wo ich die Sprachschule besuchte, lebte ich als einziger Steyler Missionar im Haus einer anderen Ordensgemeinschaft, doch trotz aller Gastlichkeit habe ich mich nie heimisch gefühlt. Was fehlte? Es sind Kleinigkeiten, wie die Freiheit eine Küche zu betreten und Schubladen zu öffnen, weil es „unsere Schubladen” sind. Es ist das Gefühl, dass uns ein Geist verbindet, den ich als den Steyler Geist bezeichnen würde, auch wenn es schwer ist, diesen in Worten zu beschreiben. Es ist sicher die Art und Weise, wie wir internationale Gemeinschaft leben und miteinander unsere Gemeinschaft mit dem pflegen, der Grund für unsere Sendung und unser Engagement als Missionare ist.




Lernfrust, Einsamkeit und Konsequenzen

Elf Monate lebte ich fast ausschließlich in Bangkok. Ich empfand die Stadt in den ersten Monaten als eine einzige Betonwüste und ich ging in dieser Zeit in der Tat durch einige Wüstenerfahrungen.
Die Sprache eines Landes zu erlernen hat einen ganz großen Anteil daran, in deren Kultur anzukommen. Während ich in Australien Englisch mit einer gewissen Leichtigkeit lernte und Spaß beim Unterricht hatte, so war das Thai lernen genau das Gegenteil. Thai hat 44 Konsonanten und 21 Vokale, wobei Vokalverbindungen wiederum 32 Klänge erzeugen. Hinzu kommen die fünf Töne des Thais, denn jede Silbe hat einen Ton. Der Ton wird durch Tonzeichen, den Konsonanten und den Schlussbuchstaben bestimmt. Es gibt über 50 Kombinationsmöglichkeiten, die eben einen der fünf Töne ausmachen. Trifft man nicht den richtigen Ton, so wird man entweder nicht oder missverstanden, weil man z. B. Hund statt Pferd sagt.
Ich hörte zwar, aber ich hörte keine Töne. Für mich war fast alles dasselbe. Ich wiederholte Silben und konnte nicht verstehen, warum die Lehrerin nicht zufrieden war, denn ich glaubte genau dasselbe nachgesprochen zu haben. Ich musste das Hören üben. So undifferenziert mein Hören war, so undifferenziert war wohl auch das Verstehen dessen, was mich umgab. Ankommen ist wohl ein Prozess des Differenzierens und zum Ankommen in einer neuen Kultur muss man alle seine Sinne öffnen.

In meiner Unterkunft wurde vor allem Englisch gesprochen, was für mein Thai von Nachteil war. Freunde in „mein” Heim einzuladen, war wegen einer strengeren Klausur jenseits der Pfortentür nicht möglich. Auch innerhalb dieser Klausur war vieles so anders von dem, was ich von uns Steylern kannte. Zum ersten Mal fühlte ich mich in meinem Leben wirklich einsam. Ich hatte ein Zuhause, das kein Zuhause für mich war, und es fehlten mir Freunde. Meine Mitbrüder waren 650 km entfernt und ihre Treue im Anrufen und Mailen ließ mich nur bedingt besser fühlen. Bis zu einem gewissen Grad konnte ich damit umgehen und realisiere im Rückblick, dass ich in dieser Wüstenzeit etwas über mich selbst gelernt habe. Mir selbst zu begegnen in dem, was ich bin oder besser, wer ich bin und mich nicht nur über das zu definieren, was ich tue oder gut kann. Wer bin ich zu dem Zeitpunkt gewesen? Ich war ein Deutscher, der vor Ort kein Wort Deutsch sprach oder hörte, ein Mensch ohne soziales Netz in einem fremden Land, den immer wieder das Gefühl von Einsamkeit beschlich. Ich war ein Lernender, der kein Lernerfolg sah. „Ich will endlich mal wieder was tun, das ich wirklich gut kann!” war ein Wunsch, der sehr stark in mir war.

Mit all dem Frust über meine ausbleibenden Lernfortschritte beschloss ich, mein Problem ganz rational anzugehen. Ich brauchte Orte, an denen ich Thai hören würde und Gelegenheit zum Sprechen hätte. Ich brauchte Menschen! Ich suchte nach einer Möglichkeit in einer Familie zu wohnen, doch eine Familie bot mir stattdessen ein eigenes Haus für mich. Ich ging zum Goethe Institut und wollte an einer Infowand ein „Biete Deutschkonversation im Austausch mit Konversation in Thai” anbringen. Im Sprachinstitut begegnete man mir aber nur mit Vorurteilen und man fragte mich, was ich denn wirklich wolle. Deutscher Mann und allein, da war für sie klar, was ich wollte. Veränderungen zu schaffen fordert Ausdauer und Energie.


Wendepunkte, von der Frust zur Lust

Gut, dass mir klar war, was ich wollte: Menschen um mich herum und dass es mir gut geht! Ich realisierte, dass die beschriebenen Erfahrungen ordentlich auf mein Selbstvertrauen drückten. Es fiel mir schwer, Entscheidungen zu treffen. „Darf ich das oder darf ich das dürfen?” war oft meine Frage im Innern und die Antwort von den Idealen der Armut und des Gehorsams bestimmt. Heute sehe ich, wie einseitig ich vieles gesehen hatte. „Ich muss es dürfen.” war schließlich meine Antwort. Ich artikulierte meine Bedürfnisse und begann Veränderungen zu schaffen: Ein Sprachtutor, ein Schulwechsel! Eine private Lehrerin in Bangkok, die täglich in Thailändisch mit mir skypte und so zu meinem Lernfortschritt beigetragen hat. Ich intensivierte Kontakte zu Mitschülern und beschloss, dass es okay ist, nicht daheim zu essen, auch wenn es in der Stadt etwas kostete. Ich war es mir selbst wert. Im dritten und vierten Monat erfuhr ich spürbare Wendepunkte, und ich hatte das Gefühl, ein Stück „mehr” anzukommen, im Land und bei mir selbst. Ich begann, Bangkok mehr und mehr zu entdecken und zu mögen. Aus dem Frust entwickelte sich langsam eine Lust. Dennoch fragte ich mich:



Bin ich hier richtig- will ich noch Missionar in Thailand sein?

Im Blick auf meine Sendung stellten sich mir grundlegende Fragen. Sollte ich den Thais wirklich meine Botschaft bringen? Der Provinzial der österreichischen Provinz hat mich am Pfingstfest der Jugend offiziell in mein OTP gesendet und mir ein kleines Kreuz überreicht, als Zeichen für den, in dessen Auftrag ich unterwegs sein will. Wollte ich noch zu dieser Sendung stehen?


Wann immer man in Thailand vor die Tür geht, sieht man, wie Thais ihre Spiritualität ausdrücken. An jeder Ecke gibt es Tempel. Buddhistische Mönche gehören zum Alltagsbild in Thailands Strassen. Auf meinem Schulweg konnte ich sie morgens ihre Almosen sammeln sehen und Thais beobachten, wie sie vor den Mönchen ihr Schuhe auszogen, niederknieten und ihre Gaben überreichten. Fast jedes Wohnhaus hat ein kleines Haus für Geister in seiner Nähe, wo täglich Gaben dargebracht werden. Gebetsstätten gibt es überall und die Verneigung vor ihnen ist ganz selbstverständlich, egal, ob man als Passagier im Bus sitzt oder als Fahrer hinter dem Steuer seines eigenen Wagens. Ich habe sogar gesehen, wie beide Hände vom Steuer genommen wurden, um sie während des Autofahrens zum „Whai” zu falten. Wo ich also hinsah, sah ich, wie Menschen ihren Glauben zum Ausdruck brachten. Sehr eindringlich war das am Lichterfest zu beobachten, an dem Menschen Blumengebinde mit Räucherstäbchen und Kerzen zum Wasser bringen. Sie drücken ihren Dank gegenüber den Flüssen und dem Wasser aus, die Leben ermöglichen. Gleichzeitig bitten sie um Entschuldigung für die Verschmutzung des Wassers.



Beim Lichterfest liegt eine besondere Stimmung in der Luft, die jeden ans Wasser zieht. Bevor die Blumengebinde ins Wasser gelassen werden, wird gebetet. Ich war überwältigt vom immensen Ausdruck des Glaubens und stellte mir die Frage, ob die Menschen die Botschaft, die ich bringen wollte, überhaupt brauchen würden.

Mittendrin und goldrichtig!

Für mich ist es wichtig, unterschiedliche Glaubensräume zu haben. Orte, an denen ich mit Menschen zusammenkomme, um das Evangelium zu hören und zu teilen, wie es einen jeden von uns berührt. In Bangkok habe ich einen solchen Ort gefunden. Junge Christen, Thais und Ausländer, treffen sich am Samstagabend. Die Musik ist cool. Man spricht und singt Thai und Englisch. Menschen geben persönliche Glaubenszeugnisse. Es ist ein Ort, an dem jeder sein darf wie er ist, ein Ort, wo keiner lange fremd bleibt, denn mit der offiziellen Begrüßung wird man eingeladen, seinen Nachbarn zu begrüßen und ihn kennen zu lernen. Ich bin nicht an jedem Wochenende an diesen Ort gegangen, aber jedes Mal war ich nachhaltig berührt. Als mich die Frage beschäftigte, ob Thais die Botschaft meines Glaubens brauchten, hörte ich zwei Frauen sagen: „Mein Leben hat sich verändert, seit ich von Christus hörte.” Das liest sich soft und seicht, aber ihre Ausführungen zeigten, dass das ihre Erfahrung und Lebensrealität war. Sie unterstrichen die Qualität eines Gottes, der ein Personaler ist. Sie wiederholten: „Liebe Gott und Deinen Nächsten wie Dich selbst.” Sie erzählten, wie dieser Satz ihr Familienleben veränderte und wie sie mit Verletzungen umzugehen lernten. Liebe und Vergebung bleiben mir als Schlüsselwörter in Erinnerung und ich bin dankbar, dass ich die Antwort auf meine Frage, ob Thais die christliche Botschaft brauchten, von Thais selbst bekommen habe.

An jenem Abend ging ich noch über einen Markt und fand einen Plastikring auf dem in Blindenschrift das Wort “Liebe” geschrieben war. „Genau darum geht es”, dachte ich, „Gottes Liebe erfahrbar zu machen, wo sie nicht gesehen werden kann.” Später stellte ich fest, dass „Vergebung” ein ganz zentrales Thema in den Lebensgeschichten der AIDS-Kranken ist.


In der Adventzeit wurden wir in dieser Gemeinde einmal bewusst zum „Geben” eingeladen. Üblicherweise gibt man sein Opfer in ein kleines rotes Säckchen und niemand sieht, wie viel Geld man hineinsteckt. An jenem Abend sollten wir vor den Augen aller geben und einen Dank dafür sagen, dass wir überhaupt was zum Geben hatten. Ich merkte, wie mir immer unbehaglicher wurde, denn ich hatte nicht einmal einen einzigen Bath in meiner Tasche. Was also sollte ich geben? Ich begann zu realisieren, dass ich was anderes zu geben hatte. Kein Geld, das ich nicht hatte, sondern mich selbst, mit meinem Interesse, meiner Zeit und meinen Talenten. Ich spürte, dass ich an diesem Abend eine neue Verbindlichkeit und Hingabe im „Ja“ zu meiner Sendung eingegangen war.


HIV und AIDS: Öffnen statt verschließen!


Berührungsängste überwinden - Beziehungen zulassen.







Nach einem Sprachmodul über Medizin und Pflege konnte ich ein vierwöchiges Praktikum in einem HIV/AIDS-Center machen. Ich wählte den Ort, weil er nah am Meer liegt. Ans Meer bin ich in diesen vier Wochen nie gekommen. Wohl aber, bin ich bei den Menschen angekommen, denen ich in Thailand begegnen wollte. Natürlich war ich am Anfang unsicher, doch die Menschen halfen mir, Berührungsängste abzubauen. Ich war täglich zehn Stunden lang mit ihnen zusammen. Ich könnte 1001 Geschichten erzählen von den HIV positiven Kindern, denen das Leben ins Gesicht geschrieben steht und den AIDS-Kranken, die mit mir ihre Hoffnungen und Schmerzen teilten. Am nachhaltigsten beeindruckt mich ein Gespräch mit Plaa, einem 29-jaehrigen Patienten, vier Tage vor seinem Tod: „Bruder, du glaubst daran....” und er schaute auf ein Bild von Christus. „... und er lässt dich das tun, was du hier für mich tust?” „Ja!” „Ich merke, dass es nicht dasselbe ist, wenn du kommst oder jemand anderer. Du nimmst dir Zeit und du fühlst dich ein.” Er sagte mit einem etwas verlegenen Ton: „Ich bin Buddhist.” „Das ist sehr gut und ich glaube, dass in deinem Glauben auch ganz viel Gutes steckt.” Dann schaute er mich aus seinen großen Augen an, die weit aus dem abgemagerten Gesicht herausragten und über seinen Mund legte sich ein Lächeln. Ich nehme seine Aussage in gewisser Weise als Auftrag für meine Arbeit, mir immer wieder bewusst zu sein, dass Gott die Motivation für mein Handeln ist und dass er selbst es ist, der sich in der Gestalt der Kranken berühren lässt. Plaa wurde von seiner Freundin verlassen, als seine Diagnose gestellt wurde. Auch der Lebenspartner seiner Schwester hat sich aus dem Staub gemacht, weil sie alle den Virus fürchteten.




Eine wichtige Lektion lernte ich vom jüngsten Bewohner des Social Centers. Ton Khaw ist sein Name, er ist elf Monate alt. Ob er HIV-positiv ist, wussten wir zu dem Zeitpunkt nicht. Ich mag kleine Kinder und oft kann ich sehr schnell eine Beziehung zu ihnen aufbauen. Mit ihm war es ganz anders. In den ersten Tagen hat er sich unheimlich vor mir gefürchtet. Wenn immer ich auch nur näher als 5 Meter zu ihm kam, suchte er Schutz bei einer anderen Person. Ich war ihm entschieden zu weiß. Er hatte Angst vor mir. So ging es einige Tage. Es war schon ein großer Schritt, als er mein Lächeln nicht mehr mit einem Weinen erwiderte. Nach einigen weiteren Tagen konnte ich ihn berühren, wenn er sich sicher auf dem Arm einer anderen Person wusste. Am Ende der zweiten Woche war es dann soweit: Ton Khaw kam auf meinen Arm und hatte seine Angst überwunden. Wir konnten uns begegnen. Ich habe den Prozess dieses „Sich Vertrautmachens“ nie so lange und intensiv erlebt wie mit diesem Kind. Später merkte ich, dass es mit dem Ankommen in einer neuen Kultur ganz ähnlich ist. Mir wurde klar, wie viel Energie investiert und Vertrauen aufgebaut werden muss. Ich hatte nach drei Monaten ein Visum und eine Arbeitserlaubnis für Thailand, aber innerlich war ich längst nicht angekommen. Aber auch das musste ich erst realisieren.
Am Ende des Praktikums wurde mir ein unvergesslicher Abschied bereitet. Jeder Patient kam einzeln zu mir, um mir einen weißen Faden um mein Handgelenk zu binden. Es ist eine Tradition, mit der zum Ausdruck kommt, dass man miteinander verbunden bleiben wird. Während man den Faden zuknotet, werden gute Wünsche zugesprochen. Meine Augen waren dabei voller Tränen, wohl auch, weil ich die Tränen in den Augen der Patienten sah.


Nach diesem Praktikum ging ich noch einmal für vier Wochen in meine Sprachschule. „Bibel” war das letzte Sprachmodul, das ich absolvierte. Wieder einmal hatte ich einen ganz neuen Wortschatz zu erlernen. Thai hat verschiedene Sprachhierarchien mit eben unterschiedlichen Wörtern. Wenn man von der Mutter eines Koenigs oder Gottes spricht, dann heißt sie eben nicht mehr Mutter, sondern hat eine ganz andere Bezeichnung und so ist es mit ihrem Fuß und ihrem Kopf und überhaupt mit allem. Ich fragte mich, ob diese Hochsprache dem Wesen des Gottes entspricht, der er für mich ist. Diese Hochsprache legt ja zugleich nahe, dass das Gegenüber, an das man sich richtet oder über das man spricht, in gewisser Hinsicht unnahbar ist. Nun, ich kann es gut annehmen indem ich denke, dass Gott was ganz Besonderes ist und eine besondere Sprache verdient hat. Schwierigkeiten habe ich noch damit, dass viele Kirchenleute hier glauben, was ganz Besonderes zu sein und sich entsprechend verhalten. „Brüder” sind im Sprachgebrauch hier Seminaristen und immer wieder werde ich gefragt, warum ich nicht „mehr“ sein will. Wir Steyler Brüder und Priester müssen unseren Platz bei und mit den Menschen wirklich erobern. Es ist den Menschen nicht vertraut, dass ein Priester mit ihnen auf dem Boden sitzt und isst. Genauso, wie ein Bruder in Jeans kein Ordensbruder sein kann. Als ich während unseres Jugendcamps beim Kochen half, wollten mich die Frauen von der Arbeit abhalten. Ich musste ihnen klarmachen, dass „der Bruder gesunde Hände hat”. Es ist dann ein Spaß daraus geworden, wann immer sie mich beim Gemüse schälen oder Spülen sahen, hervorzuheben: „Der Bruder hat gesunde Hände!”

Anpacken und etwas bewirken.





Zu Ostern 2010 bin ich endlich in Nong Bua Lamphu und der Missionsstation der Steyler Missionare angekommen! Ich engagiere mich im Mother of Perpetual Help Center, wo wir Patienten ambulant und stationär betreuen. Im Januar konnten wir das Haus Mutter Maria eröffnen. Es ist eine Jugendeinrichtung, in der künftig 24 HIV-positive Jugendliche ein Zuhause finden. Das Mother of Perpetual Help Center führt Aufklärungsarbeit in Schulen durch und bietet Workshops für Risikogruppen. Zudem unterstützen wir Familien der HIV- Selbsthilfegruppen mit Schuluniformen und Dünger für Reisfelder. Wir konnten vor drei Jahren 150 Familien je zwei Kühe zur Verfügung stellen. Da sie ihre Herden vergrößern konnten, war es ihnen möglich, Geld an unser Center zurückzuführen. Mit diesem Geld wiederum konnten wir neue Kühe für neue Familien kaufen.
Im Hospiz arbeite ich in der Pflege und Betreuung der Aidskranken und unterrichte unsere Mitarbeiter zu unterschiedlichen Themen der Gesundheits- und Krankenpflege. Ich führe viele Gespräche mit unseren Patienten und kann oft nur darüber staunen, was ich alles von ihnen erfahre. Ich habe angefangen, mit einigen Patienten kleine Kreuze aus Metalldraht zu formen. Anfänglich haben wir uns darüber lustig gemacht, wie buckelig und unproportional „unser” Christus ist. Doch dann kamen wir mehr und mehr ins Gespräch darüber, wie Jesus wohl war und was sein Wesen ausmachte.



Einer der Patienten hat angefangen, eines dieser Kreuze zu tragen, nachdem ich sagte, dass das Kreuz stärker sei als Geister. Er erzählte mir, dass ein traditioneller Arzt ihm noch zwei Monate bis zu seinem Tod gegeben habe. Am Tag unseres Gesprächs blieben ihm noch genau zwei Wochen! Er sagte mir, dass er früher Geister gesehen habe und dass er Angst vor ihnen hatte. Als er sechs Wochen zuvor in unserem Hospiz aufgenommen wurde, hatte er zwei Nächte lang vor lauter Angst nicht geschlafen. Das Kreuz stärkt ihn, Suizidgedanken gehören der Vergangenheit an.
Ein anderer Patient, Jo, 33 Jahre, berichtete, dass er von seiner Familie verstoßen wurde. Er benutzte das Wort “weggeschmissen” wurde. Zu seiner Ex-Freudin und der Mutter seines fünfjährigen Sohnes hat er keinen Kontakt, was ihn sehr traurig macht. Er ist allein. Als er letzte Woche stationär in einem Krankenhaus in Udon Thani aufgenommen wurde, musste er erfahren, dass die Menschen ihn mieden und er hörte wie sie zu ihren Besuchern sagten: „Geh nur ja nicht zu nah an das Bett von dem Patienten da, der hat AIDS.” Auf einem Auge kann er nichts mehr sehen und er hat jeden Tag Fieberschübe. Seine Dankbarkeit darüber, dass ich regelmäßig seine Körpertemperatur kontrolliere und ihm Wadenwickeln anbiete, an seinem Bett bleibe und mit ihm spreche, drückt er ohne große Worte aus. Es ist ein Blick, in dem die Verwunderung „Das machst du alles für mich?“ mitschwingt. Wenn mir in solchen Momenten bewusst wird, dass ich genau das tue, was ich will, mich für die Menschen einzusetzen und für die da zu sein, die sonst niemand will, dann fühle ich Freude an meiner Berufung.

Herausfordernde Momente gibt es natürlich genauso. Ein 15-jaehriger Junge ist für zwei Wochen verschwunden. Er hat gestohlen, seine lebenswichtigen HIV-Medikamente nicht genommen, Drogen konsumiert und für Geld Sex mit Ladyboys gehabt. Ich denke an die Geschichte vom wieder gefundenen Sohn, doch der kam zu einer Einsicht als er ganz unten war. Einsicht fehlt diesem Jungen gänzlich. Er muss lernen über sein Leben zu nachzudenken, so wie ich lernen muss, ihm wieder eine Chance zu geben und ihm “trotz” allem mit Güte zu begegnen.

Wann immer ich über mein Brudersein nachdenke und darüber, wer ich für die Menschen sein will, dann richte ich mich an folgende Gedanken:
• Schaue ich tiefer? Hinter die Oberfläche? Habe ich den Menschen im Blick oder sein Stigma? (Past the stigma)
• Gelingt es mir, lebendige Beziehungen aufzubauen und Gemeinschaft mit ihnen zu leben? (being one with them)
• Was ist sonst noch zu tun? Müssen Veränderungen initiiert werden? Beziehe ich klare Position? Gebe ich jenen meine Stimme, deren Stimme ungehört ist?
(being one for them)
Diese Punkte fordern heraus und sind gleichzeitig richtungweisend für die Art meines Engagements.

Obwohl ich mich integriert fühle, so bleibe ich irgendwie doch immer noch ein Farang. Farang bedeutet Ausländer. Für mich hat das Wort „Farang" eine emotionale Verknüpfung an die Worte „Ausländer raus” gehabt und das Wort „Ausländer“ einen negativen Unterton in sich. Wann immer ich also das Wort „Farang" hörte, hat was Negatives mitgeschwungen.
Ein A-ha Erlebnis hatte ich bei einem Ausflug mit unseren Jugendlichen. Als ich mit den Jungs auf der Ladefläche unseres Pick-up’s saß und wir durch Landschaften mit Reisfeldern und Bergen fuhren, begegneten uns zwei Mädels auf einem Fahrrad. Sie zeigten mit den Fingern auf mich, stießen laut und mit einem Ausdruck der Verwunderung das Wort „Farang" aus. Sie waren bei meinem Anblick so irritiert, dass sie ihr Fahrrad fast in den Graben lenkten. Obwohl wir im Fahren waren, ergab sich ein kurzer Moment, indem wir miteinander herzlich lachten. Dieses Lachen schwang in mir nach, bis ich realisierte, dass das Wort „Farang“ ja erst einmal gar nicht negativ besetzt sein muss. So ist es mit der Sprache und den Worten in unseren Köpfen, mit dem was wir hören und denken und dabei fühlen. Es ist gut, sich das immer wieder einmal bewusst zu machen, es schafft Freiräume im Denken.






Die Sprache ist immer noch eine große Hürde. Hier im Nordosten des Landes kommt erschwerend hinzu, dass die Menschen Isaan sprechen, die Lokalsprache. Auch wenn sie mit mir in Hochthai sprechen, verfallen sie doch schnell in ihre Lokalsprache. Verstehen heißt in Thai เข้าใจ (kâo jai). Es besagt, dass etwas in unser Herz eindringen muss. So wie jeden Tag mehr und mehr in mein Herz eindringt, so wie ich jeden Tag mehr in Thailand und bei den Menschen ankomme, so verstehe ich auch jeden Tag mehr.

Es war unruhig in Bangkok, als ich vor einem Jahr ankam. In diesen Tagen legen sich die Unruhen der diesjährigen Kämpfe (Mai 2010). Ich hatte Bangkok rechtzeitig verlassen, dennoch sind wir alle betroffen. Eine Freundin schrieb mir: „Es ist nicht mehr das Bangkok, das wir kannten.“ Das Gebet um Frieden ist ein dauerndes Anliegen, wenn immer wir hier zusammenkommen. Ich bin dankbar, dass der Kreis jener, die uns darin unterstützen, groß ist.